– Wie beurteilen Sie als deutscher Botschafter in Litauen den russischen Angriffskrieg in der Ukraine? Finden Sie den Krieg hier relevanter als in Deutschland?
– Natürlich hat die geografische Nähe, wenn die russische Enklave ein direkter Nachbar von Litauen ist, immer zu unterschiedlichen Wahrnehmungen geführt.
Aber: Jetzt kann der Krieg einfach nirgendwo aktueller sein als in meinem Land. Deutschland hat über 800.000 ukrainische Flüchtlinge aufgenommen und über 120.000 ukrainische Kinder besuchen deutsche Schulen. Sie werden in unserem Land zu einem willkommenen Bestandteil des täglichen Lebens und bereichern die wachsende Vielfalt. Putins Angriffskrieg dominiert tagtäglich die politischen und medialen Debatten. Aus alten eingefleischten Pazifisten sind „Couch-Generäle“ geworden. Deutschland hat gerade einen Investitionsplan von hundert Milliarden Euro (100.000.000.000 €) für unsere Streitkräfte durch eine Verfassungsänderung genehmigt.
Was eigentlich manchmal weniger ist, als man sich wünschen würde – mehr öffentliches Bewusstsein hier in Litauen. Deutschlands Unterstützung für die Ukraine, militärisch und anderweitig, nimmt weiter an Stärke und Gewicht zu. Kürzlich angekündigte Produkteinführungen des hochmodernen IRIS-T, der Verteidigungssysteme Mars II und des Artillerie-Radarsystems.
Die Bemühungen Deutschlands werden jedoch öffentlich unterschätzt, auch wenn die litauische Regierung sie öffentlich und deutlich würdigt. Vielleicht liegt es daran, dass Deutschland sehr hohe – manchmal sogar unrealistische – Erwartungen hat? Vielleicht war unsere öffentliche Kommunikation manchmal etwas langsam und nicht immer ausreichend klar und verständlich? Das ist ein guter Grund, Ihnen dieses Interview zu gewähren!
– Viele Litauer treten der Armee und paramilitärischen Organisationen bei. Ein möglicher russischer Angriff auf das Baltikum wird hier sehr ernst genommen. Verstehst du diese Warnung?
– Ja absolut. Meinst du vielleicht den litauischen Schützenverband? Sie „Paramilitärs“ zu nennen, ist meiner Meinung nach eine falsche Bezeichnung. Sie sind eine durch Gesetz gegründete Vereinigung von Bürgern, die vom litauischen Militär organisiert werden und ein wesentlicher Bestandteil der Verteidigung des litauischen Staates während der bewaffneten Abwehr von Aggressionen sind. Ich sehe keine Angst, nur Entschlossenheit. Wahre Entschlossenheit ist unerlässlich. Mein Land hat seit 2017 die gleiche Entschlossenheit gezeigt, indem es die Kampfgruppe des NATO-Forward-Bataillons in Ihrem Land anführte.
Hier könnten meine Landsleute vielleicht von Litauen lernen, dass Verteidigung die existenzielle Sorge eines jeden Bürgers ist und nicht nur eine Sonderaufgabe, die die Gesellschaft professionellen Streitkräften überträgt.
– Was ist der Unterschied zwischen Deutschlands und Litauens Herangehensweise an den russischen Angriffskrieg?
– Es ist nicht anders. Deutschland weiß wie Litauen, dass die Sicherheit auf dem NATO-Territorium unteilbar ist: Sicherheit haben wir alle oder keiner von uns. Deshalb verteidigen unsere Soldaten, die die Souveränität und Freiheit Litauens verteidigen, die Werte und die Freiheit, die wir schätzen. Hier in Litauen. Wir werden dies auch weiterhin mit unseren NATO-Verbündeten tun, während wir uns an die neue Situation anpassen, die uns durch Russlands Angriffskrieg aufgezwungen wird.
– Wie hat sich die deutsche Außenpolitik nach dem 24. Februar verändert?
– Von der Basis. Wie unsere Außenministerin Annalena Baerbock am 24. Februar sagte, sind wir alle in einer anderen Welt aufgewacht. Meine Generation von Deutschen, von Europäern, ist in einer Friedenszeit von beispielloser Dauer auf unserem Kontinent aufgewachsen – sieben Jahrzehnte. Viele von uns haben die Demokratie, unsere Freiheiten und unseren Frieden für selbstverständlich gehalten. Besonders nach 1990, als viele dachten, das Ende des Kalten Krieges sei das „Ende der Geschichte“ (um dieses berühmte Sprichwort zu verwenden).
Die Vorstellung, dass jedes Land im Namen des Territoriums und der imperialistischen Ideologie wieder einen offenen Angriffskrieg führen könnte, schien unergründlich, wenn nicht geradezu surreal. Kurz gesagt, eines der grundlegenden Paradigmen einer regelbasierten Weltordnung, in der alle Staaten (zumindest in Europa) im Wesentlichen auf dem Status quo stehen und sich darum kümmern, diesen Status quo zu bewahren, wurde vollständig zerstört.
27. Februar Der von Bundeskanzler Olaf Scholz eingeführte Begriff „Zeitenwende“ (dieses Wort ist nicht leicht zu übersetzen und wird daher in seiner ursprünglichen Form verwendet. Es bedeutet im Grunde eine Zeitwende – Anm. d. Red.) bedeutet keine politische Übertreibung, sondern grimmiger Realismus.
Noch ein weiteres Schlüsselparadigma bleibt, zumindest unverändert, vielleicht sogar verstärkt: von 1945 bis 1990 die unverkennbare Anziehungskraft der etablierten liberalen, im Wesentlichen westlichen, auf Regeln basierenden Weltordnung.
Unsere europäischen Ukrainer kämpfen nicht nur für ihre souveräne Unabhängigkeit als solche. Sie kämpfen auch dafür, in einer rechtsstaatlichen Demokratie zu leben, mit den Rechten und Freiheiten, die wir nur in einer offenen Gesellschaft genießen können. Die Alternative ist ein Leben in einer Autokratie mit direkt oder indirekt aufgezwungener militärischer Gewalt. Und wer bei klarem Verstand würde das wollen?
Daher ist es heute wichtiger denn je, eine starke und wertebasierte Außenpolitik zu betreiben.
– Deutschland ist in den vergangenen Monaten international stark für seine Energieabhängigkeit von Russland und seinen zu unentschlossenen Umgang mit Rüstungslieferungen und Sanktionen kritisiert worden. Sind diese Kritiken berechtigt?
– Deutschland und Litauen sind freie Länder. Kritik ist Teil unserer demokratischen DNA, sowohl auf nationaler Ebene als auch innerhalb der europäischen Familie.
Dies gilt auch, wenn die unterschiedlichen Meinungen nicht immer vollumfänglich gerechtfertigt sind. Unsere Bundeswehrsoldaten stehen hier neben vielen anderen Werten im Wesentlichen für die Freiheit, Deutschland oder seiner Politik zu widersprechen.
– Litauen war das erste Land, das den Import von Gas aus Russland einstellte. Die baltischen Staaten haben vor einer Energieabhängigkeit von Russland gewarnt, und auch Nord Stream 2 wurde von Anfang an mit Skepsis aufgenommen. Vielleicht sollte Deutschland mehr auf die Litauer, die baltischen Länder hören?
– Hier kann ich mit dem Besuch des deutschen Außenministers A. Baerbock in Vilnius im April dieses Jahres beginnen. Sie sagte, wir hätten unseren baltischen Partnern genauer zuhören sollen.
Da könnte man ja sagen. Da ich jedoch am 24. Februar hier war, kann ich mit Sicherheit sagen, dass die Einwohner von Vilnius an diesem schicksalhaften Tag nicht weniger überrascht waren als anderswo.
War Cassandra glücklich, als sich herausstellte, dass sie recht hatte? Da bin ich mir nicht sicher. Wir müssen uns gemeinsam mit unseren Verbündeten vor dem retrospektiven Determinismus hüten, der sich heutzutage zu verbreiten scheint. „Post hoc, ergo propter hoc“ hat immer noch den Charme oberflächlicher Überzeugungskraft. Doch im Nachhinein offenbart sich oft eine gefährlich fehlerhafte Logik.
Es war nicht abwegig anzunehmen, dass es auf russischer Seite Reste wirtschaftlicher und strategischer Rationalität gab. Daher war vernünftigerweise nicht vorhersehbar, dass Putin letztendlich die Realität und die Interessen seines Landes zugunsten fieberhafter und gewalttätiger imperialistischer Fantasien, die im 19. Jahrhundert verwurzelt sind, völlig ignorieren würde. Daher die Überraschung in Vilnius, Berlin und vielen anderen Orten – nun, es war nicht überraschend.
Mein Fazit: Konzentrieren wir uns auf die unmittelbare Zukunft. Es gibt viel zu tun. Wir müssen es gemeinsam tun.
– Wie haben sich die Beziehungen zwischen Deutschland und Litauen nach dem 24. Februar entwickelt?
– Sie kamen noch näher. Deutschland hat im Januar damit begonnen, die Zahl der Truppen in der NATO Forward Forces Battalion Battle Group zu erhöhen, die es seit 2017 befehligt. Wir werden weiterhin die Führung übernehmen und eine sehr aktive Rolle spielen, während unsere Bündnisverteidigung ihre Nordostflanke weiter verstärkt.
Deutschland hat Litauen nachdrücklich unterstützt, als China versuchte, den EU-Binnenmarkt zu stören, indem es globale Lieferketten ins Visier nahm und die Produktion in Ihrem Land durch deutsche Investoren beeinträchtigte.
Wir haben eine beispiellose Häufigkeit von Besuchen hochrangiger Persönlichkeiten erlebt: von Bundespräsident FW Steinmeier und Bundeskanzler O. Scholz bis zu Außenminister A. Baerbock, Verteidigungsminister Ch. Lambrecht, vier stellvertretenden Ministern und zahlreichen Bundestagsabgeordneten. Und diese Liste enthält nicht einmal die Dutzende von hohen Beamten und Generälen, die jeden Tag nach Litauen kommen. Glauben Sie mir, meine Botschaft war noch nie so beschäftigt!
– Wie wird sich dieser Krieg entwickeln?
– Ich sehe diesem Krieg mit Entschlossenheit entgegen. Es ist ein Konflikt, den Russland in dem Moment verloren hat, als Putin ihn begonnen hat. Wegen der unglaublichen Widerstandskraft des ukrainischen Volkes und unserer anhaltenden gemeinsamen Unterstützung aus dem Westen.
Darf ich den preußischen Staatsmann Otto von Bismarck zitieren? Er sagte: „Die Berechnungen der Geschichte sind genauer als selbst die preußische Rechnungskammer. Und niemand weiß das besser als wir Deutschen. Das sagen wir aus Erfahrung.
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